Die, 1974 in Zwickau geborene, deutsche Schriftstellerin Sylvia Wage, berichtet in ihrem modernen, sonderbaren und verschrobenen Debütroman "Grund" über familiäre Abgründe und ihre Konsequenzen. Es sind die unausgesprochenen, hart umschifften Unsäglichkeiten, die von Gewalt, Unterdrückung, Missbrauch, Demut und Angst künden, die in der skurrilen, aber auch ernsthaften Novelle über Lügen, Glaubwürdigkeit und den zwischenmenschlichen Blickwinkel auf die jeweilige Wahrheit dahinter, den Ausschlag geben.
Irgendwo auf dem Grunde eines Brunnens in einem Keller in einem kleinen Haus auf einem Hügel am Rande einer unbedeutenden Kleinstadt liegt der Vater. Tot am Grund eines dreieinhalb Meter tiefen Lochs. Einem Loch, das die namenlose Erzählerin ab einem Alter von elf Jahren selbst gegraben, den Vater nach Fertigstellung hineingestoßen und jahrelang darin gefangen gehalten haben will. Aber die Erzählerin ist auch eine notorische Lügnerin. Eine Lügnerin mit einer ahnungslosen Therapeutin ohne Menschenkenntnis. Eine Lügnerin mit zwei, ebenfalls knapp 40 Jahre alten Schwestern. Elli etwas darüber, Thea etwas darunter. Beide stehen neben ihr, gucken in das Loch auf den toten Vater, der vor über zwanzig Jahren verschwand. Die erzählende Lügnerin oder die lügende Erzählerin hatte ihre Schwestern zuvor angerufen, damit auch diese endlich mit ihrer elenden (Familien-)geschichte abschließen können.
"Mein ursprünglicher Plan war, mir ein Grab zu schaufeln. Mich hineinzulegen und darin zu sterben." (Zitat S. 32)
Die namenlose U-40erin berichtet über den gewalttätigen Vater, die alkoholkranke und indes dement gewordene Mutter, sowie den Schrecken des Elternhauses und unterfüttert selbiges abwechselnd mit Anekdoten aus der Vergangenheit und der Gegenwart. Der Familie blieb damals nicht mehr, als die Scheiße, in die sie hineingeboren worden war. Es ist die Unvollkommenheit, die Fehlbarkeit, die Hoffnungslosigkeit, das Versagen, die Unterwürfigkeit und die (Lebens-)müdigkeit, die hin zur vollkommenen Selbstaufgabe führen.
"Wahre Macht ist die uneingeschränkte Loyalität deiner Opfer" (Zitat S. 79)
Letztlich geht es in "Grund" um das Hinterherjagen hinter vermeintlichen Idealen und das Scheitern daran. Um das Kümmern und das Verkümmern und die Schwierigkeit jemanden einfach so mir nichts, dir nichts restlos verschwinden zu lassen. Es gibt nämlich für alles einen Grund und hinter dem tut sich manchmal ein tiefer Abgrund auf.
Sylvia Wage, die heute in Berlin lebt, verwendet in ihrem 2021 im Original erschienenen Essay "Grund", zum Teil absichtlich lange Sätze, mit verquerem Humor, bösem Sarkasmus und verschachtelten Gedankengängen. Es ist ein Roman, sowohl der leisen, als auch der lauten Töne. Ähnlich einem jazzigen Musikstück. Nicht wirklich greifbar, sonderbar und zugleich so unendlich endgültig. "Grund" erinnerte mich von Zeit zu Zeit an einen Roman, den man in der Oberstufe lesen und ihn anschließend ausgiebig auf seine Sinnhaftigkeit hin sezieren würde, um Dinge hineinzuinterpretieren, die da gar nicht sind. Doch was hat in Sylvia Wages Erstlingswerk "Grund" tatsächlich Anspruch auf Realität? Eigentlich gar nichts, denn letzten Endes ist alles nur eine fiktive Erzählung. Oder etwa doch nicht?
(Janko)
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Brutalität/Gewalt: 17/100
Spannung: 25/100
Action: 27/100
Unterhaltung: 73/100
Anspruch: 41/100
Atmosphäre: 42/100
Emotion: 33/100
Humor: 17/100
Sex/Obszönität: 06/100
LACK OF LIES - Wertung: 72/100
Sylvia Wage - Grund
Eichborn Verlag
Gegenwartsliteratur
ISBN: 978-3-8479-0140-2
176 Seiten
Taschenbuch
Erscheinungstermin: 31.03.2023
EUR 12,00 Euro [DE] inkl. MwSt.
Weitere Formate:
ISBN Hardcover: 978-3-8479-0093-1
Erscheinungstermin: 27.08.2021
EUR 20,00 Euro [DE] inkl. MwSt.
ISBN eBook (epub): 978-3-7517-0953-8
Erscheinungstermin: 27.08.2021
EUR 14,99 Euro [DE] inkl. MwSt.
"Grund" beim Eichborn Verlag: https://www.luebbe.de/eichborn/buecher/gegenwartsliteratur/grund/id_8715851