Tom Rob Smith - Kolyma
Auch der zweite Leo Stepanowitsch Demidov Fall hat es wieder gewaltig in sich. Nach dem überragenden Debüt "Kind 44" aus dem Jahre 2008, legt Tom Rob Smith mit "Kolyma" seinen zweiten Politthriller nach. Wie bereits das Erstlingswerk, spielt auch der Nachfolger in der Anfangszeit des kalten Krieges in Russland, in der das Gefühlsleben der einzelnen Protagonisten immer wieder auf eine arge Probe gestellt wird. Das Storyboard ist zwischen der Regentschaft Stalins und seines Nachfolgers Chruschtschow angelegt. Eine Art Unsicherheit, mit einhergehender Erleichterung machte sich nach dem Tode des tyrannischen Diktators Stalin breit. Reformen waren an der Tagesordnung und niemand beim Staat wusste mehr wie er sich zu verhalten hatte, welche Befehle noch galten und welche längst überholt waren. Zu Stalins Lebzeiten spielte man oft mit der Angst der Bevölkerung vor Denunziation. Leo, ehemaliger Agent des damaligen, russischen Geheimdienstes MGB, indes zum Leiter des inoffiziellen Morddezernats ernannt, macht sich in einem Rückblick durch seine brutale Art gleich zu Anfang unsympathisch. Er hat sich im Laufe der Zeit allerdings zum Positiven geändert, zumindest soweit es sein todesmutiges und sehnsüchtig nach Gefahr lechzendes Leben überhaupt zulässt. Seltsame Verhaltensweisen und merkwürdige Taten treten in dieser verunsicherten, russischen Gesellschaft zu Tage, in der es diverse Dinge einfach nicht geben durfte, diese totgeschwiegen oder gar vertuscht wurden. In einem Staat wie Russland, in dem Verbrechen oder gar Mord als nicht existent angesehen und ein Selbstmord als schwere Verunglimpfung gegenüber dem Staat gewertet wurde, war es sicherlich nicht allzu leicht entsprechende Ermittlungen anzustellen. Selbstmord wurde daher investigativ genauso behandelt wie Mord. Offizielle Ermittlungen gab es nicht. Als Leo sodann mit der Aufklärung des Selbstmordes eines ehemaligen MGB Agenten beauftragt wird, was seiner Frau Raisa aufgrund Leos bewegter Vergangenheit beim MGB überhaupt nicht schmeckt, holt ihn prompt seine, wie eine Schlangenhaut abgestreifte Vergangenheit wieder ein und bringt nicht zuletzt ihn und vor allem seine Familie in Gefahr. Ehemalige, wie momentane Mitarbeiter des MGB werden mit Fotos von Verhaftungen derjenigen Personen konfrontiert, die sie denunziert oder eben verhaftet haben; ob nun schuldig oder unschuldig. Die Gefühlswelt derer, die sich Schuld aufluden, gerät mächtig durcheinander und die über die Jahre aufgebaute Fassade mächtig ins Wanken. Angst macht sich unter ihresgleichen breit, denn eine Bande ehemalig Denunzierter, Verhafteter und Ausgestoßener macht regelrecht Jagd auf eben solche Staatsbedienstete. Diejenigen, die Geständnisse erpressten, folterten, mordeten, richteten, werden plötzlich zu Taten animiert, die sie sich selbst niemals zugetraut hätten. Tom Rob Smith erzählt seine fiktive Geschichte in rasendem Galopp und schon ist sein Protagonist auch mittendrin in den Ermittlungen. Dazwischen funkt eine, vom damaligen MGB Beamten Leo Demidov höchst persönlich denunzierte Frau, die ihm und seiner Familie das Leben schwer macht, denn sie ist zerfressen von Wut und sinnt auf Rache. Es gibt viele verschiedene Handlungsorte, so wird Leo von Moskau aus inoffiziell als Häftling auf einem Gefangenenschiff eingeschleust, um von dort aus unauffällig ins Gefangenenlager Kolyma zu gelangen. Dort soll er einem Gefangenen zur Flucht verhelfen. Der Stoff, der sich auf 472 Seiten verteilt, liest sich größtenteils flüssig. Zum Schluss des ersten Drittels hin, überspannt der Autor den Bogen allerdings ein wenig und die Geschichte flacht allmählich etwas ab, was den Anfangs guten Lesefluss teilweise ins Stocken geraten lässt. Bei „Kolyma“ handelt es sich zwar um ein Standalone, aber die Vorkenntnisse aus "Kind 44" sind durchaus hilfreich, um sich in Leo, seine Frau Raisa und die beiden, adoptieren Kinder besser hineinversetzen zu können. Nach Stalins Tod und der alles verändernden Geheimrede Chruschtschows gerät der Aufstand der ehemals Denunzierten so richtig ins Rollen. In James Bond Manier kämpft sich der russische Milizbeamte Leo von einer totbringenden Gefahr zur nächsten. Wenn man bedenkt, was Demidov im Laufe der Story alles durchmacht, über sich ergehen lassen muss und letzten Endes überlebt, lässt dies eigentlich nur einen einzigen Schluss zu: Leo muss ein X-Men sein! Die Verhaltensweise und was Frajera (Leo's Gegenspielerin) und ihre "wory" Bande an sich bezwecken will, ist nicht immer einleuchtend dargestellt, zum Teil gar widersprüchlich und kontraproduktiv. Zum Schluss hin wird die Story leider reichlich wirr, wirkt mehr und mehr unglaubwürdig, zunehmend konfus und überladen bis konstruiert. Schade eigentlich, denn die Ansätze und der Erzählstil sind eigentlich allererste Sahne.
(Janko)
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LACK OF LIES - Wertung: 75/100