North-Carolina, im Jahre 2005. Als die Eltern der 15-jährigen leidenschaftlichen Schwimmerin Alice O’Farrell das Haus verlassen um ihren 20. Hochzeitstag zu feiern, ist die Jugendliche mit ihrem vierjährigen Bruder Jason allein zu Hause. Gerade als Alice mit dem Entfernen seiner Nagellackschmierereien in ihrem Zimmer beschäftigt ist, beschließt der kleine unbeaufsichtigte Racker, eine Runde im Wäschetrockner zu drehen. Dass das nicht gut gehen kann, versteht sich von selbst. Mit dem Resultat, dass Alice die längste Zeit einen Bruder hatte. Szenenwechsel. Sechs Jahre später. Aufgrund ihrer Schuldgefühle von zu Hause abgehauen und zur Alkoholikerin avanciert, ist von Alices einstmaliger, aufstrebender Tragfähigkeit nicht viel mehr übrig geblieben, als ein psychisches und physisches Wrack. Sie arbeitet als Barkeeperin im Frisky Pony, einem Striplokal in Harrisburg. Schon viel zu lange. Zeit weiterzuziehen. Die Umwelt erfolgreich ausgeblendet, die Gefühle unterdrückt, den Kater vom alltäglichen Besäufnis kategorisiert, startet sie in den Tag. Und mit ihr Terry Otis. Seines Zeichens Geschäftsführer des Frisky Pony. Zumindest war er das, bevor er neben Alice, nackt im Bett seines Trailers, in seiner eigenen Kotze erstickte. Als sie die Tasche mit dem Bargeld und den illegalen Substanzen neben ihm entdeckt, beschließt sie kurzerhand die Cops zu rufen. Doch diejenigen, die kurz darauf an die Tür des Wohnwagens klopfen, sind keine Cops. Eigentlich das glatte Gegenteil. Jetzt steckt Alice in Schwierigkeiten. Doch aus dieser Affäre kann sie sich erfolgreich herauswinden. Als anschließend tatsächlich die Cops anklopfen, ist das Massaker perfekt und Alice längst auf der Flucht. Samt einer Tasche voller Bargeld, die immer wieder Begehrlichkeiten hervorruft.
Im amerikanischen Original bereits im Jahre 2019 unter dem Titel "The Guilt We Carry" erschien, geht "Die Schuld" von der Startzeile an straight forward. Das sarkastisch-humorige Sprachvermögen, dem sich der US-amerikanische Schriftsteller Samuel Gailey zu Beginn seines Zweitwerks bemächtigt, verfliegt im weiteren Verlauf der 312-seitigen Road Novel immer mehr, zugunsten eines weit tiefgründigeren und anspruchsvolleren erzählerischen Stils. Trotz melancholischer Zwischentöne trägt "Die Schuld" in der Darstellung der Charaktere oder der Gewaltszenen anfangs dick auf, dafür sorgt Gailey innerhalb seiner nervenaufreibenden, gleichwohl rasanten Dynamik aber auch für ordentlich Spannung und Action. Dabei wagt der Autor, der in einer Kleinstadt im Nordosten Pennsylvanias aufwuchs und heute auf der abgelegenen Orcas Island lebt, immer wieder emotionale Rückblicke in Alices herzzerreißende Vergangenheit, sowie in die Gedanken- und Gefühlswelt der Borderlinerin. Mitleid kommt mit der gebeutelten Alice auf und man beginnt mit ihr mitzufühlen. Enttäuscht von sich selbst, dem Leben an sich, ihrem Umfeld und ihren Mitmenschen im Allgemeinen, hat sie den Glauben an Freundschaft und Gerechtigkeit, in einem moralisch verkommenen Amerika in den Anfängen des 21. Jahrhunderts, schon früh verloren. Ihre ausgeprägte Alkoholsucht ist da nicht gerade förderlich. Nicht alle, der leicht skurril gehaltenen Akteure, meinen es schlecht mit ihr. So lernt Alice auf ihrer Flucht vor der Vergangenheit und den eigenen Dämonen, den großväterlichen Rattenfänger Elton oder die ebenfalls von zu Hause ausgerissene Delilah kennen, die sich ihr unaufgefordert anschließt.
Doch Alice, die aufgrund ihres Wesens, ständig mit ekelhaften Junkies, bemitleidenswerten Außenseitern und strohdoofen Hillbillys aneinander zu geraten scheint, zieht den Ärger nun mal an, wie die Scheiße Fliegen. Und da sie eine Menge Kohle mit sich herumträgt, die ihr nicht gehört, sitzt ihr alsbald der wortgewandte, kleinwüchsige und brutale Drogenboss Sinclair, samt seines proportional überdimensionierten "Mädchen für alles" krampfhaft im Nacken. Während sich Alice und ihre neu erworbene Freundin Delilah immer weiter in die Scheiße reiten, wird Sinclair auf der Suche nach seinem Geld regelrecht investigativ.
Von subtilem Heimweh und einer ungewissen Sehnsucht geplagt, ist Alices Leidensweg eine gewisse Selbstkasteiung. Die aufwühlend und raffiniert geplottete Road Novel "Die Schuld", die sich ausnimmt wie ein cinematischer Rausch, erinnert entfernt an den, im letzten Jahr verstorbenen Cormac McCarthy. Sie ist auch ein trauriges Psychogramm über Einsamkeit, Angst, Verletzbarkeit, Alkoholsucht, Mobbing, Hilflosigkeit, Missbrauch, Ausweglosigkeit, Rassismus, Schutzbedürftigkeit, Mord, Totschlag und letzten Endes natürlich auch über die jeweilige Schuld, die jeder einzelne als strafende Bürde mit sich trägt.
(Janko)
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Brutalität/Gewalt: 67/100
Spannung: 73/100
Action: 71/100
Unterhaltung: 85/100
Anspruch: 50/100
Atmosphäre: 62/100
Emotion: 63/100
Humor: 09/100
Sex/Obszönität: 16/100
LACK OF LIES - Wertung: 83/100
LACK OF LIES - Altersempfehlung: ab 16 Jahren (aufgrund der Kausalitäten und der relativ expliziten Gewalt)
Samuel W. Gailey - Die Schuld
Polar Verlag
Kriminalroman
ISBN: 978-3-948392-96-3
312 Seiten
Gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen
Originaltitel: The Guilt We Carry (2019)
Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Stumpf
Erscheinungstermin: 15.01.2024
EUR 26,00 Euro [DE] inkl. MwSt.
"Die Schuld" beim Polar Verlag: https://polar-verlag.de/my-product/samuel-w-gailey-die-schuld/
Original Trailer zum Buch (english):