Los Angeles, Kalifornien, im gegenwärtigen Hochsommer. Ein etwa 40 Jahre alter, geschiedener, arbeitsloser und irgendwo in den Gezeiten des Lebens hängengebliebener Distanzmensch, sinniert trostlos und resigniert über sein Leben. Der namenlose Ich-Erzähler ist in einer langsam vor sich hin köchelnden Depression gefangen, zehrt von seinem Ersparten und haust alleine in einem Bungalow in Hollywood, direkt gegenüber dem von Corrina; der Frau, die schrie. Gedanken fressen sich durch seinen tristen Alltag. Katatonische Zustände, ausgelöst durch psychosoziale Belastungen und bipolare Störungen, sind zum Ausfechten da. "Die Frau, die schrie", ist eine Art Innensicht, Selbstreflexion oder Selbstfindungstrip, in der der Erzähler über den Ausgang seiner Scheidung nachdenkt, über sein erstes Aufeinandertreffen mit Corrina, die an seine Tür klopft und Einlass begehrt. Ihr Ausspruch, dass sie die zweite Frau ihres kürzlich verstorbenen Vaters umbringen oder zumindest umbringen lassen könnte, die unbestimmte Zuneigung des Berichterstatters zu ihr und sein vergeblicher Versuch einfach nur sein Leben weiterzuleben. Doch Corrina bittet ihren Nachbarn darum, zu eruieren, was ihre Schwiegermutter Sylvia Glenn hinsichtlich ihres Erbes vorhat. Von Neugier gepackt, verleitet ihn Corrina, von der er eigentlich nicht viel mehr weiß, als ihren Vornamen, zu einem längst überfällig geglaubten Ausbruch aus den Resten seines kümmerlichen Daseins, welchen er noch bitterbös bereuen wird. Denn auch zur übermächtigen Persönlichkeit von Sylvia, ihren grazilen Bewegungen und ihrem zeitlos schönen Anblick fühlt sich Ulins Hauptfigur abstruser Weise hingezogen. Doch das ist gar nicht der eigentliche Knackpunkt der Geschichte. Es geht vielmehr darum, dass Corrinas Nachbar allmählich seelisch und moralisch an der Schuld, die er auf sich geladen hat und dem selbstauferlegten Druck seiner Handlungen zugrunde zu gehen droht.
„Sommer in Hollywood, wo alles anschwillt wie eine Infektion, bis sie reif ist, aufplatzt und die Krankheit verbreitet.“ Zitat S. 206
"Die Frau, die schrie" ist ein 224 Seiten umsäumendes, verkopftes, doppelsinniges Psychogramm, das im Präsens und durchgehend in der 1. Person Singular verfasst wurde. Es ist eine gedankenverlorene, kaum greifbare und schleppende Novelle, im Stile der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, mit kurzer Halbwertszeit. Der 63-jährige, in New York geborene Schriftsteller David L. Ulin, der heute in Los Angeles lebt, nutzt für seinen Hauptprotagonisten eine durchaus anspruchsvolle Art der Altherren-Rhetorik, wie ein in die Jahre gekommener Kriegsveteran, der an PTBS leidet. In einer feuchtwarmen, Whisky-aromatisierten Atmosphäre verliert sich seine namenlose Romanfigur in ihrem pseudophilosophischen Gedankengut. Der Berichtende beobachtet, erschließt Zusammenhänge, verliert sich in seinen traumgebieterischen und selbstzerstörerischen Gedankenwelten, verhält sich vielleicht deswegen oftmals unangebracht und trifft dabei eine Reihe fataler, irrationaler und desaströser Fehlentscheidungen. Er ist sich der Schuld, die er auf sich geladen hat nur zum Teil bewusst, spürt sich selbst aber nicht mehr und kehrt sie daher gewohnheitsmäßig unter seinen soziopathischen Teppich. Er ertränkt seine Gedanken, seine Erinnerungen in einer Flut aus Whisky und findet Parallelen zu seinen Lebenslinien in der Musik des vergangenen Jahrhunderts. Bis er sich ehrerbietig unter ein Mühlrad aus bipolarer Störung, Nihilismus, Verunsicherung, Hilflosigkeit, Widersprüchen, Selbstzweifeln, Trugbildern, verwaschenen Schuldgefühlen, Intrigen und Selbstbetrug begibt, das bis zum Äußersten führt und ihn gnadenlos zu zermalmen droht. Die unterschiedlichen Parameter und Variablen sind letztlich auch sein Untergang, denn sie sind viel zu unkalkulierbar für den Vortragenden, als das er sich mit ihnen messen könnte. Als er dies wirklich für sich verinnerlicht hat, ist es längst zu spät für seine manisch-anarchistische Revolte. Die Geschichte, die 2023 im amerikanischen Original unter dem Titel "Thirteen Question Method" (nach einem Songtitel von Chuck Berry) erschien, wirkt in ihrer Gesamtbetrachtung langatmig, nimmt in ihrem weiteren Verlauf immer groteskere Züge an und man fragt sich als Leser unweigerlich: Was treibt der da eigentlich? Letztlich sind es jedoch die Dinge, die der Professor für Englisch an der University of Southern California David L. Ulin unausgesprochen oder vage lässt, die man erst nach und nach entdeckt, die den tatsächlichen Reiz an "Die Frau, die schrie" ausmachen. Und wie zum Schluss der Nebel von den eigenen geistigen Schleiern fällt...einfach herrlich.
(Janko)
Brutalität/Gewalt: 18/100
Spannung: 53/100
Action: 32/100
Unterhaltung: 71/100
Anspruch: 70/100
Atmosphäre: 60/100
Emotion: 41/100
Humor: 18/100
Sex/Obszönität: 18/100
LACK OF LIES - Wertung: 58/100
LACK OF LIES - Altersempfehlung: ab 18 Jahren (aufgrund der kausalen Zusammenhänge)
David L. Ulin - Die Frau, die schrie
Polar Verlag
Kriminalroman/Thriller
ISBN: 978-3-910918-14-6
224 Seiten
Gebunden mit Schutzumschlag
Originaltitel: Thirteen Question Method (2023)
Aus dem Amerikanischen von Kathrin Bielfeldt
Erscheinungstermin: 13.01.2025
EUR 24,00 Euro [DE] inkl. MwSt.
"Die Frau, die schrie" beim Polar Verlag: https://polar-verlag.de/my-product/david-l-ulin-die-frau-die-schrie/
English Version:
- cerebral, ambiguous psychogram with a tricky ending -
Los Angeles, California, in the current midsummer. A 40-year-old, divorced, unemployed and distant person stuck somewhere in the tides of life, muses about his life in a desolate and resigned manner. The nameless first-person narrator is trapped in a slowly simmering depression, draws on his savings and lives alone in a bungalow in Hollywood, directly opposite Corrina's; the woman who screamed. Thoughts eat their way through his dreary everyday life. Catatonic states, triggered by psychosocial stress and bipolar disorders, are there to be fought out. "The Woman Who Screamed" is a kind of introspection, self-reflection or self-discovery trip in which the narrator thinks about the outcome of his divorce, about his first encounter with Corrina, who knocks on his door and desires entry. Her statement that she could kill her recently deceased father's second wife or at least have her killed, the reporter's vague affection for her and his vain attempt to simply get on with his life. But Corrina asks her neighbor to find out what her mother-in-law Sylvia Glenn plans to do with her inheritance. Caught by curiosity, Corrina, about whom he actually doesn't know much more than her first name, tempts him to make a long-overdue escape from the remnants of his miserable existence, which he will bitterly regret. Ulin's main character also feels absurdly drawn to Sylvia's overpowering personality, her graceful movements and her timelessly beautiful appearance. But that's not the real crux of the story. It's more about Corrina's neighbor gradually threatening to perish mentally and morally because of the guilt he has brought upon himself and the self-imposed pressure of his actions.
“Summer in Hollywood, where everything swells like an infection until it ripens, bursts and spreads the disease.” Quote p. 206
"The Woman Who Screamed" is a 224-page, cerebral, ambiguous psychogram that was written in the present tense and in the first person singular throughout. It is a lost in thought, barely tangible and slow novella, in the style of the 60s and 70s of the last century, with a short half-life. The 63-year-old New York-born writer David L. Ulin, who now lives in Los Angeles, uses a sophisticated type of old-fashioned rhetoric for his main protagonist, like an aging war veteran suffering from PTSD. In a warm, humid, whiskey-flavored atmosphere, his nameless character loses himself in his pseudo-philosophical ideas. The reporter observes, develops connections, loses himself in his dreamy and self-destructive world of thoughts, perhaps because of this he often behaves inappropriately and makes a series of fatal, irrational and disastrous wrong decisions. He is only partially aware of the guilt he has brought upon himself, but he no longer feels himself and therefore habitually sweeps it under his sociopathic carpet. He drowns his thoughts and his memories in a flood of whiskey and finds parallels to his life lines in the music of the last century. Until he respectfully puts himself under a mill wheel of bipolar disorder, nihilism, insecurity, helplessness, contradictions, self-doubt, illusions, vague feelings of guilt, intrigue and self-deception that leads to the extreme and threatens to crush him mercilessly. The different parameters and variables are ultimately his downfall, because they are far too incalculable for the speaker to be able to compete with them. By the time he has truly internalized this, it is far too late for his manic-anarchist revolt. The story, which appeared in the American original in 2023 under the title "Thirteen Question Method" (after a song title by Chuck Berry), appears lengthy when viewed as a whole, takes on increasingly grotesque features as it progresses and as a reader you inevitably ask yourself: What is he actually doing it? Ultimately, however, it is the things that University of Southern California English professor David L. Ulin leaves unsaid or vague, discovered only gradually, that are the real appeal of The Woman Who Screamed. And how at the end the fog falls from your own spiritual veils...simply wonderful.
(Janko)