Wir schreiben das Jahr 1741, als ein vollkommen heruntergekommenes und zusammengezimmertes Boot mit 30 Mann Besatzung, in einer Bucht an der Südostküste Brasiliens anlandet. Bei den völlig entkräfteten, verwahrlosten und dem Tode naher Männer, handelt es sich um den kläglichen Rest einer Besatzung von 250 Mann, die am 23. August 1740 von Portsmouth, Großbritannien in See stachen. Ihr Auftrag lautete, eine mit Gold und anderen Kostbarkeiten beladene Galeere der königlich spanischen Armada zu entern und zu plündern. Am südlichsten Zipfel Südamerikas, am Kap Hoorn geriet die 1734 (eigentlich als Handelsschiff) gebaute Wager in einen heftigen Sturm, in deren weiteren Verlauf sie am 14. Mai 1741 um ein Haar sank und die Überlebenden für Monate auf eine unbewohnte Insel vor der Küste Patagoniens verbannte. Aus Wrackteilen der Wager bauten sich die Männer ein Boot, in dem sich 81 der Übriggebliebenen auf den beschwerlichen Weg machten, bewohntes Land zu erreichen. Die dreieinhalb Monate andauernde Fahrt besiegelte den Tod weiterer 50 Männer. Der Rest trotzte starken Winden, schwerem Seegang, Eisstürmen und Erdbeben, bis 30 von ihnen tatsächlich das brasilianische Festland erreichten. Als sechs Monate später drei weitere Männer in noch schlimmeren Zustand, in einer Art selbst zusammengeschusterten Einbaum mit zusammengeflicktem Segel, an der Küste Chiles angespült wurden, erhoben diese später, zurückgekehrt in ihrer englischen Heimat, schwere Vorwürfe gegenüber ihren übrigen Schiffsgefährten. Sie seien keine Helden, sondern Meuterer und Mörder. In den folgenden Auseinandersetzungen wurde klar, wie sehr die gestrandeten Männer der Wager auf der nach ihr benannten Insel leiden mussten. Kälte und Hunger zwang die ehemalige Besatzung, die sich provisorische Siedlungen errichteten, zu Plünderungen, Kämpfen, Mord und Kannibalismus. Für ein Land, das sich die Verbreitung der Zivilisation auch in den letzten Winkel dieser Welt auf die Fahnen geschrieben hatte, waren diese kriminellen Exzesse natürlich eine Schmach. Die Betroffenen trugen also gut daran, sich genau zu überlegen wie und vor allem was sie berichteten.
Für seinen exzellent recherchierten Zeitzeugenbericht "Der Untergang der Wager - Eine wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei" hat der 1967 geborene US-Amerikaner David Grann jahrelang die unterschiedlichsten Manuskripte, Zeitungsartikel, Aufzeichnungen der verschiedenen Besatzungsmitglieder, Log- und Tagebücher, persönliche Briefe, Mitschriften, Konstruktionspläne, Gerichtsakten, Aufzeichnungen der Admiralität und der Regierung, sowie diverse historische Berichte zusammengetragen und selbige studiert. Sogar eine dreiwöchige Reise nach Westpatagonien hat der Journalist, Redakteur des New Yorker und Autor Grann unternommen, die ihn selbstredend auch nach Wager Island verschlug. Dabei hat Grann, der gerne mal als regelrecht besessen bezeichnet wird, eine ausgezeichnete und informative historische Geschichte rund um die Vorbereitungen auf und um den Krieg zwischen der britischen und der spanischen Krone zusammengetragen. Diese trägt er mit der Euphorie und Haltung eines Zeitzeugen vor und bindet sie ansatzweise in die damalige Ausdrucksweise ein. Auf geradezu enthusiastische Weise bringt uns David Grann somit seine Einschätzungen über die Wager und das karge Leben an Bord näher, geht dabei aber auch immer wieder auf allgemeine Anekdoten der Schifffahrt ein. Lediglich die zahlreichen Anmerkungen innerhalb seines Textes sind eher störend als hilfreich, dienen allerdings auch eher zum Nachweis und zur Untermauerung seiner Aussagen, als zur Aufklärung oder Unterhaltung seiner Leserschaft.
Während das britische Empire, im Oktober 1739, Spanien den Krieg erklärte, um deren Vorherrschaft von der Pazifikküste Südamerikas bis zu den Philippinen zu unterbinden, wartete der stämmige Schotte David Cheap, seines Zeichens Oberleutnant auf der Centurion auf deren Instandsetzung. Sie war Teil eines Geschwaders aus mehreren Kriegsschiffen, plus der beiden Tender Anna und Industry, die von dem als ehrlich und ehrenhaft geltenden Kommodore George Anson befehligt wurden. Doch die Monate in denen Cheap zur Untätigkeit verdammt war zogen ins Land, denn die Beplankung der Centurion war wurmstichig, die Segel zerfressen und der Fockmast durchlöchert. Sie lief bereits bei ihrer Ausfahrt aus der Themse auf Grund. Bei den anderen fünf Schiffen des Geschwaders, der nicht ganz 40 Meter messenden Wager, der Gloucester, der Pearl, der Severn und der Trial sah es hinsichtlich der Schäden nicht viel besser aus. So klagte Dandy Kidd, der 56 Jahre alte Kapitän der Wager, sein Schiff sei instabil, ja sogar eine Fehlkonstruktion. Keine wirklich guten Voraussetzungen für ihren Auftrag, Schiffe der Spanier auszurauben und zu versenken. Die schon vor ihrem Beginn zum Scheitern verurteilte Mission stand also unter keinem guten Stern. Bevor es überhaupt losgehen konnte, kam es zu Zwangsrekrutierungen, da sich keine freiwilligen Besatzungsmitglieder finden ließen. Und da es zu dieser Zeit keine Wehrpflicht im Lande gab, wurden alsbald drastische Maßnahmen herangezogen, um Seeleute zu gewinnen. Kriminelle wurden zwangsverpflichtet, ausgediente Seefahrer wieder in Dienst gestellt, Invaliden an Bord gebracht und jeder, der nur nach Seefahrt aussah, entführt und verschleppt. Es waren die Elenden unter den Elenden. So kam es zu Ausbrüchen von Krankheiten und etliche Seeleute türmten bevor es überhaupt losging.
David Grann beschreibt in seinem Werk ebenfalls die unterschiedlichen Besatzungsmitglieder, ihre Gepflogenheiten, ihre Eigenarten und ihre Herkunft, wobei die Unterteilung in Klassen an Bord längst nicht so viel Raum einnahm, wie an Land.
"Auf der Wager allerdings hatte sich eine außergewöhnlich hohe Zahl an widerspenstigen und streitlustigen Männern versammelt." Zitat S. 52
Während der Lektüre von David Granns intensiver Mischung aus Fakten und Erzählung, wird man sich der Gefahr, der Strapazen, der Schmerzen, der Sehnsucht nach der Familie, des Leids, der Krankheiten und des Todes, die während der großen Fahrt lauerten, gewahr. Wen das Fleckfieber, das von Läusen übertragen wurde oder der Skorbut nicht in die knochigen Arme des Sensenmanns führte, den erwarteten Stürme, Seeschlachten oder er wurde von dem albtraumhaft strapaziösen Himmelfahrtskommando, vom Hunger und dem kümmerlichen, entbehrungsreichen Leben in den Malstrom des Wahnsinns gezogen. In Granns Erzählung, die häufig aus der Sicht des britischen Seefahrers und Entdeckers John Byron verfasst ist, der seinerzeit als Fähnrich auf der Wager angeheuert wurde, schleichen sich schon mal weniger gängige Begriffe aus der Seefahrt ein.
Als das Geschwader Wochen später auf der brasilianischen Insel Santa Catarina ankam, um sich zu erholen und Proviant aufzunehmen, war bereits ein Gutteil der Besatzung Gevatter Tod zum Opfer gefallen, doch der gefährliche Part der Reise lag noch in weiter Ferne. Anhaltende Orkanböen, 30 Meter hohe Wellen und Wellentäler gespickt mit Eisbergen machten die 3.000 km entfernte Schiffspassage um Kap Hoorn zu einer der gefährlichsten Unterfangen der damaligen Seefahrt. Wenigen Seeleuten gelang zu jener Zeit die Umrundung des Kaps. Es war eine beschwerliche und verlustreiche Rundung, die letztlich zwar gelang, aber nur einige Wochen später zur Folge hatte, dass die Wager Schiffbruch erlitt, indem sie auf ein Riff auflief und sich nur wenige Überlebende auf die, später nach ihr benannte Wager Island in Westpatagonien flüchten konnten. Als die Vorräte immer knapper wurden, brachen sich Misstrauen, Aufsässigkeit, tumultartige Zustände, Wut, Verzweiflung, Streitereien, bis hin zu purer Anarchie Bahn, die nicht selten in Ungehorsam, Diebstahl, Verrohung, Meuterei, Mord und sogar Kannibalismus mündeten. Manche begannen gar zu halluzinieren und mit sich selbst zu sprechen. Behält man sich das beschriebene Ausmaß unter diesen Extrembedingungen und die Unfreiwilligkeit der Mission von Beginn an vor Augen, kann man den britischen Marineangehörigen ihr Verhalten eigentlich nicht zum Vorwurf machen. Doch genau das geschah zwischen Leere, Langeweile und Tristesse auf dem kargen Eiland bereits auf drastische, gar tödliche Weise. Doch, um vom Massengrab Wager Island fortzukommen, wollte ein Teil der Crew mit einem zusammengeschusterten Boot ca. 600 km nach Norden fahren (genauer gesagt nach Chiloé, um dort auf Commander Anson zu treffen), während es die restliche Besatzung vorzog 5.000 km zurückzufahren, um in Brasilien anzulanden. Beides waren absolut todesmutige Wagnisse. Tatsächlich schafften es 30 der 91 Überlebenden dreieinhalb Monate später in Brasilien anzulanden.
David Grann gibt einen höchst spannenden und lebensnahen Einblick in die damaligen Abläufe, dem sich wahrlich kein abenteuer- oder schifffahrtsbegeisterter Leser entziehen kann. Sein Augenzeugenbericht liest sich wie ein aufgebrachter Abenteuerroman. Mit Anekdoten aus der Seefahrt ausstaffiert, geht der Autor auf die Hintergründe und die Aufzeichnungen der Tagebücher ein, die so manch einem später vor dem Kriegsgericht zum Verhängnis zu werden drohten. Offensichtlich beschreibt Grann die Not, das Elend und die Verwahrlosung der gestrandeten Besatzung, die unter unmenschlichen Strapazen bis zur Selbstaufgabe kämpften, ziemlich detailgetreu. Der US-amerikanische Schriftsteller geht hierbei intensiv auf das brutale Siechtum ein und macht es so in Ansätzen erfahrbar oder zumindest nachvollziehbar. Das gilt allerdings nicht für das Militärgericht, das schon für Kleinigkeiten hohe Strafen vorsah, wenn sie auch selten Anwendung fanden.
„Die Kriegsartikel sahen auch für kleinere Vergehen wie das Einschlafen während der Wache die Todesstrafe vor, aber in der Praxis wurde oft davon abgewichen und eine weniger drastische Strafe ausgesprochen, wenn das Gericht es für vertretbar hielt.“ Zitat S. 330/331
Zurück in der englischen Heimat folgte, mit Beginn der Verhandlungen am 15. April 1746, ein denkbar kurzer Prozess mit erstaunlichem Ausgang. Auch auf Kommodore Anson, der ebenfalls schwere Verluste hatte hinnehmen müssen, geht Grann ein. George Anson konnte es nicht lassen und ließ sich sogar, trotz geschwächter und arg dezimierter Besatzung auf die unbarmherzigen Grausamkeiten kriegerischer Handlungen mit den Spaniern ein. Als die Centurion in England eintraf, wurden Anson und seine Crew mit Ruhm und Ehre überhäuft. Eine willkommene Ablenkung gegenüber der Schmach, den die Katastrophe um die Wager mit sich brachte.
Martin Scorsese und Leonardo DiCaprio, die David Granns Vorgänger "Killers of the Flower Moon" erfolgreich verfilmten, haben sich auch die Rechte an David Granns neuestem Bestseller "The Wager" gesichert. Für mich wäre diese Adaption ohne Frage ein absolutes must-see!
(Janko)
https://www.facebook.com/DavidGrannAuthor
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Brutalität/Gewalt: 45/100
Spannung: 70/100
Action: 43/100
Unterhaltung: 86/100
Anspruch: 47/100
Atmosphäre: 61/100
Emotion: 55/100
Humor: 05/100
Sex/Obszönität: 01/100
LACK OF LIES - Wertung: 83/100
LACK OF LIES - Altersempfehlung: ab 16 Jahren (aufgrund des historischen Verständnisses)
David Grann - Der Untergang der Wager - Eine wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei
C. Bertelsmann Verlag
Gesellschaft & Kultur
ISBN: 978-3-570-10546-7
432 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag (mit Karten und Farbbildteil)
Originaltitel: The Wager (2023)
Aus dem Englischen von Rudolf Mast
Erscheinungstermin: 24.04.2024
EUR 25,00 Euro [DE] inkl. MwSt.
Weitere Formate:
ISBN eBook (epub): 978-3-641-31863-5
Erscheinungstermin: 24.04.2024
EUR 19,99 Euro [DE] inkl. MwSt.
ISBN Hörbuch Download (Ungekürzte Lesung mit Tobias Kluckert): 978-3-8445-5125-9
Erscheinungstermin: 22.04.2024
EUR 21,95 Euro [DE] inkl. MwSt.
"Der Untergang der Wager - Eine wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei" beim C. Bertelsmann Verlag: https://www.penguin.de/Buch/Der-Untergang-der-Wager/David-Grann/C-Bertelsmann/e626705.rhd