September 1916. Die 22-jährige Ausreißerin Annie Hebbley ist Insassin des Morninggate Asylum, in Byshore Mews, Liverpool, England. Dort ist sie auf ihren eigenen Wunsch untergebracht. Doch der Erste Weltkrieg tobt und die Betten für die Versehrten sind rar. Somit folgt sie auf Anraten des Leitenden Arztes Nigel Davenport, dem schriftlichen Aufruf ihrer Freundin Violet Jessop, auf der kürzlich zum Lazarettschiff umgerüsteten HMHS Britannic als Krankenpflegerin zu arbeiten. Die Britannic ist das Schwesterschiff der Titanic, auf der Annie und Violet, bis zu deren Untergang in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912, den sie beide glücklicherweise überlebten, bereits als Stewardessen gearbeitet hatten. Die Arbeit auf dem Hospitalschiff ist extrem. Mit nichts zu vergleichen. Annie muss sich erst an die jungen, verzweifelten Männer mit zerschossenen Gesichtern, amputierten Gliedmaßen und vom Senfgas verätzten Lungen gewöhnen. An Bord der Britannic lernt sie den Ersten Bordfunker Charlie Epping kennen. Er interessiert sich dafür, wie Annie den Untergang der Titanic überlebt hat und lässt sich von ihr berichten.
Nach dieser kurzen Einleitung springt die US-amerikanische Schriftstellerin Alma Katsu also vier Jahre zurück ins Jahr 1912 und somit zu den Geschehnissen auf der RMS Titanic, vor und während ihres Untergangs. Auf angenehme und wenig brutale Weise, vermischt sie Fakten mit Fiktion und nutzt dabei eine, der damaligen Zeit angemessene, aristokratisch angehauchte, aber leicht verdauliche Sprache. Dadurch erzeugt Alma Katsu eine angeregte und gemütliche Atmosphäre, mit einer Essenz Gothic-Novel. Auch die bildhaft ausgeführten Schilderungen der jeweiligen Schauplätze tragen dazu bei, dass ein emotionales und einfühlsames Gefühl des Behagens entsteht. Hier trifft die Stewardess der Ersten Klasse Annie Hebbley erstmals auf den jungen und attraktiven Mark Fletcher, seine Ehefrau Mrs. Caroline Fletcher, sowie seine wenige Monate alte Tochter Ondine. Annie fühlt Mark gegenüber eine anziehende Vertrautheit. Als würde sie ihn kennen. Daraus entbrennt eine unerbittliche Sehnsucht nach dem attraktiven, aber verheirateten Mann in Annie, die sich allmählich zu einer wahnhaften bis geisteskranken Obsession entwickelt. Eine merkwürdige, beinahe tödliche Anziehungskraft entwickelt auch Teddy, der Dienstjunge der First Class Reisenden John Jacob und Madeleine Astor, als er wie magisch vom Meer gerufen wird, auf die Reling der Titanic klettert und nur noch fallen will. Er wird in letzter Sekunde vom Pugilisten David "Dai" John Bowen von den Stahlstreben gepflückt.
"The Deep - Spuk auf der Titanic" schwenkt zwischen den Geschehnissen des Jahres 1912 auf der Titanic und denen von 1916 auf dem Schwesterschiff Britannic hin und her. Das 560 Seiten starke, fiktionale Psychogramm ist in erster Linie auf die Studien der einzelnen Charaktere ausgelegt und hauptsächlich aus der Sicht von Annie Hebbley, Caroline Fletcher, aber auch weiterer Passagiere verfasst. Während die abergläubische und von einem gefährlichen Gemütsleiden geplagte Annie mit einer beschwingten, tagträumerischen Melancholie agiert, lässt sich Caroline ausgelaugt, verwirrt und von Kopfschmerzen geplagt, häufig vom Moment tragen. Als sich Caroline gemeinsam mit dem Millionär Benjamin Guggenheim, John Jacob Astor, dem angeblich reichsten Mann Amerikas, samt seiner Frau Madeleine Astor, sowie der Modeschöpferin Lady Lucille Duff-Gordon und ihrem Mann Cosmo einer Séance in W.T. Steads First Class Kabine anschließt, wird der Geist angerufen, der zuvor den Dienstjungen Teddy um ein Haar in die See gelockt hätte. Während dieser Geisterbeschwörung, die der bekannte britische Journalist, Redakteur und Spiritist W.T. Stead leitet, erleidet der junge Teddy in der Kabine der Astors einen epileptischen Anfall, dem er erliegt. Die sonderbaren Vorkommnisse häufen sich. Aus den irrationalen bis wahnhaften Gedanken, dem wirren Handeln, Passagieren im Drogenrausch, Okkultismus und übernatürlichen Geschehnissen, formt Alma Katsu eine charismatische Spukgeschichte, die auch leidenschaftliche Liebesgeschichte auf vielerlei Ebenen ist. Ich muss allerdings zugeben, dass der Mittelteil für meinen Geschmack zu aufgebauscht und daher etwas überladen rüberkommt.
"The Deep" birgt ein metaphysisches Flair aus übernatürlichen Geschehnissen, sowie einer mystischen, geheimnisvollen und übersinnlichen, gleichwohl aber auch leidenschaftlichen Romantik. Das erklärt vielleicht, warum der lebendig und nah gezeichnete Roman, mit erstaunlich wenig Action und Spannung auskommt. Die transzendente Erzählung lebt vielmehr von der sonderbaren atmosphärischen Tiefe, der eingehenden Charakterstudien der damaligen High Society und der nervösen Stimmung, die Alma Katsu unter den Passagieren heraufbeschwört. Als Annie Hebbley vier Jahre später auf der Britannic als Krankenschwester ihren Dienst verrichtet, wird ein bewusstloser Patient in den großen Behandlungssaal geschoben. In ihm erkennt Annie Mark Fletcher, der Annies Meinung nach, den Untergang der Titanic nicht überlebt haben kann. Doch wie ist das möglich, dass er ihr hier auf der HMHS (His Majesty's Hospital Ship) Britannic begegnet, wenn er doch eigentlich tot sein müsste? Und wie soll sie ihm weiterhin begegnen, nachdem er sie vehement abweist? Erneut steigert sich Annie in einen krankhaften Wahn, der sie beide in den psychischen, wie physischen Abgrund zu ziehen droht. Alma Katsu, die heute mit ihrem Mann, dem Musiker Bruce Katsu, sowie den beiden Hunden Nick und Ash in den Bergen von West Virginia lebt, hat mit "The Deep" eine seltsam faszinierende und sogartige Wirkung auf mich ausgeübt. Ein bisschen düsterer und draufgängerischer hätte ihr zweiter Roman im Festa Verlag aber dann doch gerne sein dürfen.
Edutainment-Facts:
Die 1887 bei Bahía Blanca, Argentinien geborene Krankenschwester Violet Constance Jessop ist eine real existierende Person, die bereits auf der Olympic (dem ersten von drei Schiffen der Olympic-Klasse) gearbeitet hat. Bereits hier war sie in ein Unglück verwickelt, als die Olympic am 20. September 1911 mit dem britischen Kreuzer Hawke zusammenstieß. Beide Schiffe wurden schwer beschädigt, sanken aber nicht. Sie überlebte ebenfalls den Untergang der Titanic in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912, auf der sie damals arbeitete. Die Überlebenskünstlerin entrann auch das dritte Mal dem Tod, als die Britannic am 21. November 1916 auf eine deutsche Seemine auflief und in der Folge verschiedener Nachlässigkeiten und Fehlverhalten der Besatzung, nur 58 Minuten nach der Explosion sank. Hierzu führten unter anderem die, gegen ausdrückliche Order, zur Lüftung offen stehenden Bullaugen, sowie fatalerweise auch ein Schichtwechsel, bei dem die Crew gegen die Vorschrift verstieß, die Schiffsschotts stets geschlossen zu halten. Violet Jessop saß in einem der beiden Rettungsbote, die verbotenerweise noch während des laufenden Motors der Britannic zu Wasser gelassen wurden. Hierbei gerieten die beiden Rettungsbote in die noch rotierende Schiffsschraube der Britannic und wurden dort zerschlagen. Violet konnte sich im letzten Moment durch einen beherzten Sprung ins Wasser retten und wurde von einem der anderen Rettungsbote aufgenommen. Erst Jahre später erfuhr Violet, dass sie sich bei dem Sprung ins Wasser, bei dem sie mit dem Kopf gegen den Kiel eines der Rettungsboote schlug, eine Schädelfraktur zugezogen hatte. Violet Constance Jessop heiratete in den späten 1920er Jahren, wurde aber kurze Zeit später wieder geschieden. Sie starb am 05. Mai 1971 an einer Herzinsuffizienz. Violet Constance Jessop wurde 83 Jahre alt.
Weitere vorkommende Personen, in Alma Katsus Roman "The Deep - Spuk auf der Titanic", wie der britische Journalist, Redakteur und Spiritist William Thomas Stead, der Immobilienmakler und Geschäftsmann Colonel John Jacob Astor IV, sowie seine 18-jährige schwangere Frau Madeleine, der Industriemagnat Benjamin Guggenheim und selbstverständlich der Kapitän der Titanic Captain Edward John Smith haben ebenfalls einen realen Hintergrund. Die Hauptprotagonistin Annie Hebbley ist allerdings frei erfunden.
(Janko)
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Brutalität/Gewalt: 25/100
Spannung: 38/100
Action: 32/100
Unterhaltung: 82/100
Anspruch: 31/100
Atmosphäre: 65/100
Emotion: 57/100
Humor: 09/100
Sex/Obszönität: 09/100
LACK OF LIES - Wertung: 75/100
LACK OF LIES - Altersempfehlung: ab 14 Jahren (aufgrund der nicht allzu häufigen Brutalität und des einfachen Verständnisses)
Alma Katsu - The Deep - Spuk auf der Titanic
Festa Verlag
Horror/Thriller
Buchreihe: HORROR & THRILLER - Band 185
ISBN: 978-3-98676-114-1
560 Seiten
Paperback in der Festa-Lederoptik mit Umschlagklappen
Originaltitel: The Deep (2020)
Aus dem amerikanischen Englisch von Heiner Eden
Erscheinungstermin: 11.04.2024
EUR 16,99 Euro [DE] inkl. MwSt.
Weitere Formate:
ISBN Ebook (ePup): 978-3-98676-115-8
Erscheinungstermin: 13.03.2024
EUR 5,99 Euro [DE] inkl. MwSt.
"The Deep - Spuk auf der Titanic" beim Festa Verlag: https://www.festa-verlag.de/the-deep-spuk-auf-der-titanic.html